Nils Heinrich

am 12.04.2025 in der Baulandhalle

Die Unwägbarkeiten eines Lebens mit „Systemwechsel“ – „Als Auto wäre ich ein Junger Gebrauchter“

Der Kabarettist Nils Heinrich entlarvt bei der Kulturkommode Osterburken in seinem aktuellen Programm die fehlenden Gewissheiten im Alltag eines Fünfzigjährigen

Er gehört zur Generation „Ich komme ursprünglich ganz woanders her“. Er kann 37 verschiedene Passwörter auswendig. Die letzten Lebensjahre verbrachte er damit, Bluetooth-Geräte zu koppeln. Und im Laufe seines bisherigen Lebens hat er schon so viel Mikroplastik gegessen, dass seine Arterien nicht verkalkt sind, sondern von innen isoliert. Für Nils Heinrich gibt es einfach zu viele Unwägbarkeiten im Leben: Der 52-Jährige fühlt sich eigentlich zu jung für sein Alter, kann aber diverse Gebrauchsspuren nicht leugnen. Geboren in der DDR, ist er mit Zahnfüllungen aus zwei verschiedenen politischen Systemen ausgestattet. Vor allem weiß er: es gibt keine Gewissheiten mehr – nicht im Politischen und schon gar nicht im Privaten.

Stoff genug also für den mittlerweile in Berlin lebenden Kabarettisten, dies alles in seinem aktuellen Programm „Junger Gebrauchter“ zu verarbeiten und das Osterburkener Publikum in der Baulandhalle an eben diesen Veränderungen teilhaben zu lassen, die nicht erst mit der Wendezeit begannen und in der Mitte des Lebens wohl noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht haben. 18 Jahre alt war Heinrich, als die Mauer fiel. Bis dahin hat er als scharfsinniger Beobachter eine Unmenge an Anekdoten gesammelt, mit denen er zunächst zahllose Poetry Slams in ganz Deutschland gewann. Mittlerweile verarbeitet er seine Erlebnisse in inhaltsreichen Liedern und Erzählungen fernab von Einheitscomedy-Brei und Ostalgie und wurde dafür mit zahlreichen Kleinkunstpreisen belohnt. Dass es bei seinem aktuellen Buch, seit Jürgen von der Lippe es in seiner „Leselust“ vorgestellt hat, akute Nachdruckprobleme gibt, wäre allein schon ein Kapitel wert, wenn Nils Heinrich im wahren Leben nicht zu bescheiden wäre, um mit diesem Erfolg zu kokettieren. Denn auch das Publikum liebt ihn bei seinen Live-Auftritten als den klugen Kopf mit dem schnellen Mundwerk und dem teuflisch-feinen Sinn für Alltagsdramen und -komödien.

Beim Einkaufen versuche er beispielsweise als ebenfalls Betroffener jenen Geschlechtsgenossen zu helfen, die fassungslos vor dem Regal mit Milchprodukten stehen, um den vermeintlich simplen Auftrag ihrer Frau zu erfüllen, einen weißen Naturjoghurt im Glas zu kaufen. Denn für alle Vorlieben gebe es mittlerweile eine eigene Sorte - vom linksgerührten Naturjoghurt bis hin zu Joghurt von Kühen mit Methan-Katalysator. Von den unzähligen veganen Alternativen ganz zu schweigen. Inzwischen könne man sogar Roggendrink in seinen Gerstenkaffee schütten und so sein Vollkornbrot trinken.

Trotz der pointierten Alltagsbetrachtungen in gesprochenen und gesungenen Worten ist Nils Heinrich alles andere als unpolitisch. Als er das letzte Mal vor zwölf Jahren bei der Kulturkommode zu Gast war, sei die FDP aus dem Bundestag gewählt worden und eine gewisse Dorothee Bär wurde Staatsministerin für digitale Infrastruktur. Die Konsequenzen aus diesen erstaunlichen Parallelen möge jeder selbst beurteilen. Auf den Punkt war auch sein höchst aktuell verfasster Text, in dem ein junger Mensch einem 25 Jahre im Tiefschlaf gelegenen Patienten die rasanten Entwicklungen des vergangenen Vierteljahrhunderts erläutern sollte. Was sind Doppel-Wumms, Dunkelflaute und Einweg-Vapes? Gibt es künstliche Intelligenz tatsächlich deswegen, weil sie nicht mehr in natürlicher Form vorkommt? Und warum wurde in den USA zum zweiten Mal ein rechtskräftig verurteilter Präsident gewählt, der aussieht, als würde er seinen Kürbiskopf morgens von einer Zuckerwatte-Maschine frisieren lassen? Erschreckend deutlich wird dabei dem Publikum vor Augen geführt, was sich nicht nur in der weltweiten Ordnung, sondern vor allem im gesellschaftlichen Gefüge und der Parteienlandschaft Deutschlands verändert hat. Dass der 69-jährige Friedrich Merz nun als Hoffnungsträger aus Sachzwängen heraus genau das in seinem Regierungsprogramm umsetzen müsse, was er im Wahlkampf noch als linksgerichtete, grüne Ideologie verspottete, war da nur eine der Absurditäten. Und die Abkehr von seinen Wahlversprechen seien deshalb konsequenterweise eben „Sonderwahrheiten“.

So poltert, singt und liest sich Nils Heinrich durch seine Bestandsaufnahme der deutschen Befindlichkeiten und hinterlässt ein intelligent unterhaltenes Osterburkener Publikum, dem an diesem Abend wieder einmal deutlich wird, dass eine Welt, in der wir trotz aller Krisen und Sorgen nicht mehr lachen könnten, ohne Humor keinesfalls eine bessere wäre.

Text: Martin Hammer
Fotos: Michael Pohl